Vivien Marsch GmbH

Januar 5, 2018, gepostet in Gegenwartsbehandlung, Organisationsentwicklung, PraxisfallPraxisfall zum Leitprozess Gegenwartsbehandlung: Schluss mit der Zeitverschwendung in Meetings

Anliegen des Kunden

Der Geschäftsführer ist frustriert, weil so viel Zeit in Meetings verschwendet wird. Er beschreibt mangelnde Disziplin: Man kommt zu spät, läuft während des Meetings vor die Tür, liest nebenbei auf dem Laptop, schreibt Emails, entscheidet nichts und alle Sitzungen dauern ewig lange. Er glaubt, dass es an Wissen darüber fehlt, wie man Meetings professionell organisiert und möchte für seine Führungskräfte (ca. 250 Personen) eine Schulung zu „MeetingManagement“ einkaufen.

Auftragsklärung

Wir treffen uns mit der gesamten Geschäftsführung. Die Herren sind locker, gut gelaunt und erklären, dass sie ihre Führungskräfte unterstützen wollen. Das Unternehmen ist hoch dynamisch, es sind viele junge Leute beschäftigt, Praktikanten haben verantwortliche Jobs, viele haben hier ihre erste Anstellung nach dem Studium, alle scheinen ehrgeizig und motiviert. Das Durchschnittsalter der Führungskräfte ist etwa 30 Jahre. Es fehlt daher an Erfahrung und Kenntnissen, aber das – so scheint es – lässt sich ja ändern. Wir stellen unsere Toolbox zum Meeting-Management vor und schlagen außerdem vor, zusätzlich Präsentations- und Moderationsfähigkeiten zu trainieren. Dieser Vorschlag wird angenommen.

Beratungsverlauf

Wir nehmen zunächst an diversen Meetings teil und können beobachten, dass tatsächlich von Disziplin nichts zu sehen ist. Es gibt zwar eine Agenda, aber man diskutiert andere Fragen, kommt unpünktlich, macht willkürlich Pausen, redet durcheinander. Spaß hat man trotzdem, man genießt den Austausch und die Kollegen. Wir nehmen uns vor, zunächst mit drei Gruppen zu je zwölf Personen zu beginnen und danach zu sehen, wie sich die Meetings verändern. Es ist wie zu erwarten ein großes Vergnügen, mit hoch engagierten jungen Leuten zu arbeiten. Die Teilnehmer sind begeistert, machen aktiv mit, probieren sich aus und die Marketingabteilung entwirft ein Poster mit Meeting-Regeln, das zur Corporate Identity passt. Wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis, planen schon die nächsten Termine. Trotzdem besuchen wir zunächst wieder Meetings und stellen enttäuscht fest, dass fast nichts von dem, was geschult wurde zur Anwendung kam. Nur die Poster hängen riesengroß in allen Räumen. Ich bin frustriert und ratlos: Was haben wir falsch gemacht? Ich fasse den Entschluss mir das genauer anzusehen, bevor wir weitermachen wie bisher, suche das Gespräch mit den Teilnehmern, möchte verstehen, was hier unter der Oberfläche passiert. Sinngemäß stelle ich dafür folgende Fragen:

  • Wer macht hier Karriere?
  • Was muss man dafür tun?
  • Wie macht man sich einen guten Namen?
  • Wie zeigt man, dass man kompetent ist?
  • Wofür wird man belohnt?
  • Wann wird man übergangen?
  • Wie verhält sich der Chef?
  • Wie kommt man an die richtig spannenden prestigeträchtigen Jobs?

Je mehr ich höre, desto klarer wird mir, wo wir in die Irre geraten sind: Hier wird der Regelbruch belohnt. Wer quer im Stall steht, fällt positiv auf. Wer Zeit hat, ist nicht wichtig. Wer nicht im Stress ist, leistet nichts Bedeutsames. Unterbrechen und sich vordrängen sind Zeichen von Motivation und Durchsetzungsvermögen. Dienst nach Vorschrift ist etwas für das Fußvolk.

Mir wird schnell klar, dass Konformität und Regelgehorsam den eigenen Status untergräbt und suche das Gespräch mit dem Geschäftsführer. Ich habe den Eindruck, dass er und seine Vorstandskollegen Rollenmodelle für Erfolg sind und die Meeting-Kultur nur dann nach und nach ändern können, wenn sie selbst beginnen, sich nach Regeln zu richten, die Toolbox anzuwenden und das eigene Verhalten danach auszusteuern. Als ich dem Geschäftsführer das sage, sehen wir uns an und beginnen zu lachen, dieser Gedanke erscheint uns beiden plötzlich absurd. Denn im Unternehmen ist der „Kick“ das Maß aller Dinge. Die Schulungsreihe geben wir aus diesem Grund auf; sie würde nicht zur Organisation passen.

Beratungsergebnis

Der Geschäftsführung und auch mir wird klar, dass die Firma ihrer Überzeugung nach vom Chaos lebt und deshalb erfolgreich und dynamisch ist. Solange Regeln damit assoziiert werden, es könnte dazu führen, dass aus der Firma eine Behörde wird, ist Meeting-Management nur für die administrativen Abteilungen machbar. Im Controlling und in der Logistik haben sich die Regeln einigermaßen etabliert, der Rest der Truppe bleibt „kreativ“ und das hadern damit hat ein Ende.

Theoretische Einordnung

An welcher Stelle operieren wir mit Regeln – und wo reagieren wir situativ? Das muss jede Organisation entscheiden und bildet dazu Muster aus. Das hier beratene Unternehmen ist eine Spielwiese mit viel informeller Organisation. Es zieht junge, unabhängige Menschen an, die einen hohen Anspruch an Selbstwirksamkeit und Selbstbestimmung haben. Vordergründig möchte man zwar Ordnung haben, um Zeit zu sparen. Tatsächlich jedoch wird Unordnung mit Freiheit, Autonomie, Kreativität und Status verknüpft; Ordnung und Regeln dagegen mit Langeweile, Bürokratie, Einschränkungen und Unlust (siehe dazu auch Leitprozesse der Psychodynamik, Bedürfnisregulation). Im Zweifel entscheidet man sich deswegen für den Regelbruch, um die Motivation der Mitarbeiter zu erhalten. Diese Einseitigkeit führt damit auch immer wieder zu viel Chaos und in Folge zu Burn-out Phänomenen und Erschöpfungszuständen.

Bislang allerdings kann die Organisation mit diesem Preis gut leben, auch wenn eine hohe Fluktuation entsteht und kaum jemand in der Firma bleibt, der älter als 40 Jahre ist. Daher hat man bewusst entschieden, an diesem Vorgehen zumindest bei den „Kreativen“ nichts zu ändern. Ab und an wird jetzt allerdings einem „Bürokraten“ Beförderung angeboten. Damit wird ein Signal gesetzt, dass die Befolgung von Regeln zumindest an manchen Stellen honoriert wird und die Organisation anfängt beide Pole des Leitprozesses Gegenwartsbehandlung besetzen zu können.

Disclaimer: Um unsere Klienten und Kunden zu schützen und ihre Privatsphäre zu wahren, werden an dieser Stelle keine echten Namen verwendet und auf Bezeichnungen von Unternehmen und Branchen verzichtet. Die Fälle sind jedoch real und haben sich so zugespielt.

Erfahren Sie noch mehr über den Leitprozess der Gegenwartsbehandlung aus der Metatheorie der Veränderung.

Mehr zu › Teamcoaching

verfasst von Vivien Marsch

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